April 2019 | Interview
Melanie Vogel: Neugierig bleiben
Melanie, du hast erst im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Der Neugier-Code“ veröffentlicht. Was ist es, das dich am Thema „Neugier“ so fasziniert?
Es sind zwei Aspekte. Zum einen ist Neugier eine der natürlichsten Ressourcen, auf die wir zurückgreifen können, denn Neugier ist angeboren. Jedes gesunde Kind kommt mit explorativer Neugier auf die Welt und nutzt dieses Schlüsselmotiv für Lernen und Verstehen der eigenen Umwelt sehr ausgiebig. Zum anderen ist Neugier der Grundmotor für Pioniergeist und damit eine überaus wirksame Eigenschaft, um Veränderungen positiv – nämlich neugierig – bewältigen zu können. Wir haben grundsätzlich zwei Kerntendenzen, wie wir Veränderungen begegnen: ängstlich oder neugierig. Ängstliche Menschen tun sich mit Veränderungen extrem schwer und sind schnell im Widerstand und in der Krise. Neugierige Menschen sehen in Veränderungen Chancen und Potenziale und stehen dem Neuen daher aufgeschlossen gegenüber.
Neugierig zu sein wird ja sehr oft mit Indiskretion und Sensationslust assoziiert. Das ist aber sicher nicht die Art von Neugier, die du meinst…
Nein, diese Art der Neugier ist absolut destruktiv für alle Beteiligten. Die Neugier, von der ich in meinem Buch spreche, ist die explorative, also die wissens- und erkenntnisbasierte Neugier. Diese sogenannte „epistemische Neugier“ beinhaltet eine absolute Offenheit für neue Erfahrungen. Sie ist eine mentale Denk- und Kreativleistung, die aktiviert wird, wenn Probleme oder Konflikte gelöst werden wollen.
Wie entsteht Neugier?
Neugier kann man sich vorstellen wie einen Mückenstich im Gehirn. Wir erleben eine Kluft zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir (noch) wissen wollen. Diese Kluft reizt unser Gehirn und motiviert zum Wissenserwerb und zur Problemlösung. Dieser Reiz ermöglicht uns immer eine Bewegung nach vorne – hin zum Neuen, hin zu den Bereichen, in denen uns noch Erfahrungen fehlen. Ist das Neue entdeckt und verstanden und sind die entsprechenden Erfahrungen gemacht, hört der Mückenstich auch auf zu jucken. Unsere Neugier ist gestillt.
Kann man Neugier trainieren?
Ja, absolut. Ich habe in meinem Buch 10 Elemente definiert, mit denen sich Neugier trainieren lässt. Diese 10 Elemente entwickelte ich anhand der Vergleiche zwischen Leonardo da Vinci und Albert Einstein, deren Lebensverläufe frappierende Parallelen aufweisen. Auch das Forschungs- und Entdeckerverhalten der beiden Genies birgt sehr interessante Gemeinsamkeiten, von denen wir lernen können. Das Ermutigende dabei ist: Beiden war das Geniehafte nicht in die Wiege gelegt, sondern sie haben beispielsweise durch Selbstlernen, visionäres und laterales Denken sowie durch eine hohe Intuition und eine nie enden wollende Neugier immer wieder Pioniergeist bewiesen und sind Wege gegangen, die vor ihnen noch nie jemand gegangen ist.
Neugier kann sich entfalten und aufblühen, wenn wir uns immer wieder Phasen der Stille gönnen und unserem Gehirn die Chance geben, den Lärm des Alltages abzustreifen. Share on X
Kannst du uns exemplarisch drei dieser 10 Elemente nennen?
Zum einen hilft es der Neugier, wenn man den Mut hat, große Träume zu träumen. Google nennt das Moonshots – wir „greifen nach den Sternen“. Es kommt darauf an, dass wir unserem Tun einen höheren (visionären) Sinn geben. Wichtig für die Neugier ist auch, dass wir wieder Zugang zu unseren Sinnen bekommen. Sowohl Einstein als auch da Vinci waren sehr sensorische Menschen, die über Beobachtung viele neue Sinnzusammenhänge hergestellt haben. Um das erreichen zu können, brauchen wir aber nicht nur den Zugang zu unseren Sinnen, sondern auch Ruhe. Neugier kann sich entfalten und aufblühen, wenn wir uns immer wieder Phasen der Stille gönnen und unserem Gehirn die Chance geben, den Lärm des Alltages abzustreifen. Erst dann hat unser Gehirn nämlich wieder die Möglichkeit, neu und frei zu denken.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Neugier und Innovationsfreude?
Ja, es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ohne Neugier kein Pioniergeist und Pioniergeist – also die Abenteuerlust auf das Neue und Unbekannte – ist der Kerntreiber für Innovationsfreude. Die Offenheit für radikales Denken – und nichts anderes ist die Innovation – wird durch Neugier fast schon spielend erreicht.
Hat eine gesunde Neugier auch noch weitere positive Auswirkungen?
Ja, sehr viele Studien belegen, dass neugierige Menschen beispielsweise die besseren Bildungsabschlüsse machen und erfolgreicher im Beruf sind. Neugierige Menschen sind außerdem in der Lage mit Veränderungen besser umzugehen. Sie können Komplexität schneller entwirren, erleben sehr häufig einen intensiven Lebenssinn, wenn sie ihrer Neugier nachgehen. Sie gelten als sogenannte „nonkonformistische Talente“, d.h. sie sind sehr frei in ihrem Denken und Handeln und lassen sich nur ungern in feste Konstrukte pressen. Und: Wer die Grenzen des eigenen Denk- und Erfahrungshorizontes durch Neugier immer wieder durchbricht, empfindet Spaß und Freude und lebt sehr viel intensiver.
Du schreibst in deinem Buch, das Leonardo da Vinci für dich der neugierigste Mensch aller Zeiten war? Warum?
Weil er tatsächlich alle Nachteile, die ihm durch seine außereheliche Geburt und die fehlende Schulausbildung in die Wiege gelegt wurden, durch ein überaus hohes Maß an Neugier ausgeglichen hat. Seine Fähigkeit, durch Beobachtungen Rückschlüsse auf größere Zusammenhänge zu ziehen, das – für mich zumindest fast schon unerklärliche – Talent neue Sinnzusammenhänge herzustellen, beruht auf Neugier. Und das nicht nur in einem Fachbereich, sondern auf unterschiedlichsten Gebieten. Bis auf die Mathematik, die ihm Zeit seines Lebens fremd blieb, konnte er sich in sehr viele Lebens- und Wissensbereiche hineindenken. Das ist faszinierend und meines Wissens bislang unerreicht.
Wenn wir unsere Neugier beibehalten, dann hilft sie uns auch durch das Alter hindurch. Wir bleiben mental agiler, wendiger und jünger. Share on X
Warum fällt es uns im Alter schwerer, neugierig und offen für Neues zu bleiben?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Unser Gehirn liebt immer wiederkehrende Muster und Strukturen, weil es uns das Denken und Handeln im Alltag extrem erleichtert. Wenn wir aber Zeit unseres Lebens in diesen Denk- und Handlungsstrukturen verhaftet bleiben und sie nie oder nur sehr selten durch neue ersetzen, wird unser Gehirn unfassbar faul. Wir hören auf, Fragen zu stellen, wir nehmen unsere Umwelt als gegeben hin – manche erreichen hier schon fast fatalistische Zustände – und in dieser reaktiven und passiven Haltung hat Neugier keinen Nährboden. Wenn wir unsere Neugier beibehalten, dann hilft sie uns auch durch das Alter hindurch. Wir bleiben mental agiler, wendiger und tatsächlich hält uns Neugier auch jung.
Hast du einen Tipp, wie man sich selbst und auch anderen mehr Lust auf Neugier macht?
Es gibt einen extrem einfachen Trick, die eigene Neugier wiederzubeleben. Wir sollten uns in neuen Situationen einfach mal fragen: „Was macht mich an dieser Situation jetzt neugierig?“ Die Frage fällt leicht, wenn wir die neue Situation bewusst herbeigeführt haben. Wirklich interessant wird sie jedoch, wenn wir zum Beispiel vor beruflichen Veränderungen stehen, die wir so eigentlich nicht wollten. Sich dann die Frage zu stellen: „Was macht mich an dieser Situation jetzt neugierig?“ hat spannende Effekte. Unser Gehirn rutscht jetzt nämlich automatisch vom Widerstand in ein neugieriges Annehmen. Der Mückenstich fängt an zu jucken…
Vielen Dank für das inspirierende Gespräch, Melanie.
Über Melanie Vogel:
Melanie Vogel, dreifache Innovationspreisträgerin, ist seit 1998 passionierte Unternehmerin. Futability®, VUCA, Innovation und Leadership sind ihre Kernthemen, die sie nicht nur als Dozentin an der Universität zu Köln unterrichtet, sondern auch in Vorträgen, Keynotes, Webinaren und Seminaren mit Unternehmern und Führungskräften teilt. Melanie Vogel gehört zum Beirat des Leonardo da Vinci Forums.