April 2019 | Interview

Pero Mićić: Zukunft verstehen, Zukunft gestalten

Herr Mićić, Sie beschäftigen sich hauptberuflich mit der Zukunft. Das klingt sehr spannend. Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen?

Wir bei der FutureManagementGroup AG bezeichnen uns als Zukunftsmanager und verstehen uns nicht als Zukunftsforscher. Zukunftsforscher liefern uns das Rohmaterial. Manche gehen in die Tiefe einzelner Zukunftsfelder, wie etwa der Entwicklung von Stromspeichertechnologien. Andere bleiben flach, entwickeln aber breite, interdisziplinäre Zukunftsbilder. Heutzutage ist Zukunftswissen überhaupt kein Engpass mehr. Durch YouTube, unter anderem, haben wir einen enormen Überfluss daran. Das Problem ist vielmehr, aus der großen Komplexität und Widersprüchlichkeit der vielen Szenarien, Projektionen und Prognosen schlau zu werden.

Wir, als Zukunftsmanager, verwenden die Arbeitsergebnisse der Zukunftsforscher als Rohmaterial, wie der Schreiner das Holz. Wir verarbeiten das Zukunftswissen der Welt zusammen mit unseren Klienten zu konkreten Entscheidungen und Strategien. Zukunftsmanagement ist also der praktische Umgang mit Zukunftswissen, um es im Hier und Jetzt wirksam zu machen. Wir bauen die Brücke von der Praxis in die Zukunftsforschung und wieder zurück in die Praxis.

Viele behaupten, unsere Welt drehe sich immer schneller und wir müssen uns an permanente Veränderungen gewöhnen. Ist das wirklich so?

Ja. Die Binsenweisheit ist, dass Veränderung das einzig Konstante ist. Die zunehmende Geschwindigkeit der Veränderung konnten wir schon über mehrere Jahrhunderte seit der Renaissance beobachten. Seit wenigen Jahren bekommen wir zu spüren, dass sich vor allem die digitalen Technologien und die auf ihnen fußenden Märkte exponentiell verändern.

Menschen denken standardmäßig linear. Die Exponentialität der Entwicklung künstlicher Intelligenz oder der Elektromobilität unterschätzt man, wenn man seiner Intuition folgt. Das ist einer der Gründe, dass die traditionellen Automobilhersteller über zehn Jahre die Erfolge von Tesla ignoriert oder unterschätzt haben und nun größte Mühe haben, mitzuhalten. Und das was sie tun, ist im Wesentlichen, Tesla zu kopieren.

Als ich mein Buch über Leonardo da Vinci schrieb, war ich verblüfft, wie viele Parallelen es zwischen der Renaissance und unserer heutigen Zeit gibt. Beschäftigen Sie sich als Zukunftsmanager auch mit der Vergangenheit oder nur mit dem Heute und Morgen?

Die Geschichte liefert einen unerschöpflichen Schatz an historischen Analogien, mit denen man die aktuellen und zukünftigen Entwicklungen besser verstehen und einschätzen kann. Zwischen 1900 und 1913, also in nur dreizehn Jahren, fand in den amerikanischen Städten eine fast vollständige Transformation von der Kutsche zum Automobil statt. Das ist ein guter Hinweis darauf, wie schnell es passieren kann, dass es schon in ca. acht Jahren für den normalen Autokäufer selbstverständlich ein wird, ein Elektroauto kaufen. Wir müssen damit rechnen, dass 2027 so gut wie niemand mehr einen Verbrenner kaufen wird.

Die Prinzipien des Wandels, genauso wie die die Mechanismen und Formen des Wandels sind seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden die gleichen. Anders ist nur die Geschwindigkeit und natürlich der Gegenstand des Wandels.

Wo sehen Sie neben der Digitalisierung die größten Herausforderungen, die in den nächsten Jahren auf uns Menschen warten?

Den Prozess der Digitalisierung gibt es seit über 60 Jahren. Nur weil die Entwicklung seit wenigen Jahren spürbar exponentiell wird und weil unzählige Technologiefelder mit leistungsfähigeren Prozessoren, massiv mehr Daten und mit neuronalen Netzen digitalisiert wurden, so etwa die Genomsequenzierung, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit entwickelt. Digitalisierung ist also eher eine basistechnologische Entwicklung. Sie wird dazu führen, dass wir sehr viel mehr wissen werden über den Menschen und die Natur, mehr über Energiegewinnung und -speicherung und auch mehr über das Verhalten von Menschen. Zudem wird das Internet zum „Spatial Web“. Das Internet wird nicht mehr nur über Bildschirme zugänglich sein. Es kommt zu uns in die reale Welt. Die Grenzen zwischen virtueller Welt und physischer Welt werden fließend.

Die meisten Menschen werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit überrascht werden von den anstehenden Turbulenzen und Crashes in Wirtschaftsleistung und Währungen. Elf Jahre nach dem großen Schock der Finanzkrise haben wir es nicht geschafft, die Finanzwelt zu stabilisieren.

Gleichzeitig werden viele gering qualifizierte Menschen arbeitslos. Es ist richtig, dass künstliche Intelligenz und Robotik wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze schaffen als sie vernichten, aber dennoch wird – weltweit gesehen – die Zahl der Aufgaben abnehmen, die mit geringer Qualifikation ausgeführt werden können. Eine neue Finanzkrise und eine Welle technologischer Arbeitslosigkeit machen unsere unmittelbare Zukunft sehr herausfordernd.

Die Evolution hatte nicht genügend Zeit, unsere Fähigkeit zur Vorausschau und zum langfristig sinnvollen Handeln zu entwickeln. Klicken Sie um zu Tweeten

 

Leonardo war ein großer Bewunderer der Natur und der Schöpfung. Was müssen wir in Zukunft tun, um unseren Planeten besser zu schützen?

Was zu tun ist, ist so eindeutig, wie es nur sein kann. In vielen Feldern stehen uns die Gewohnheiten und entsprechenden Widerstände gegen den Wandel im Wege. Wir behindern die Entwicklung und Implementierung der richtigen Lösungen durch menschliche Irrationalität und Kurzsichtigkeit. Menschen und ihre Gehirne sind für ein Leben im Hier und Jetzt gebaut. Die Evolution hatte nicht genügend Zeit, unsere Fähigkeit zur Vorausschau und zum langfristig sinnvollen Handeln zu entwickeln. Wir gewinnen einen großen Teil unserer Energie immer noch auf dem Niveau von vor hundert Jahren, durch Verbrennen von Kohle, Gas und Öl. Die meisten betreiben ihre Fahrzeuge immer noch mit Benzin und Diesel. Wir haben die Meere überfischt. Wir verwenden bedenkliche Pestizide und vergiften nicht nur die Böden, sondern auch die Insekten. Die Zahl der Beispiele unserer Kurzsichtigkeit ist erschreckend und enttäuschend.

Sobald wir es aber schaffen, dass die langfristig richtige Entscheidung auch im Hier und Jetzt leichter fällt, werden wir bessere Lösungen entwickeln. Einfach gesagt, sobald der Preis für regenerativ gewonnenen Strom niedriger ist als der Strom aus Kohle, werden wir Regenerativ-Strom kaufen. Wenn sich die Kapazität installierter Photovoltaik-Anlagen so entwickelt, wie in den vergangenen zwanzig Jahren, nämlich alle zwei Jahre ungefähr verdoppelt, könnten wir schon 2035 unseren gesamten Strom allein aus Photovoltaik gewinnen. Wenn wir mehr Lageenergiespeicher bauen würden, hätten wir auch kein Problem mehr mit dem Ausgleich von Verbrauchsspitzen, weil die Sonne nachts nicht scheint und der Wind nicht immer weht.

Sobald das Elektroauto auch in der Anschaffung und nicht nur in den Gesamtkosten billiger sein wird, werden wir wie selbstverständlich Elektroautos kaufen. Die meisten Menschen kaufen sie nicht, weil ihre Vorstellung der Bedeutung von „Reichweite“ veraltet ist, sie vor Änderungen ihrer Gewohnheiten zurückschrecken, weil sie nicht wissen, dass ein Elektroauto zu fahren, schlicht mehr Freude macht, dass ein moderner Akku bis zu einer Million Kilometer hält und dann immer noch 70-80% seiner Kapazität hat und weil sie nicht berücksichtigen, dass der Unterhalt eines Elektroautos deutlich billiger ist als der Unterhalt eines Verbrenners. Erst wenn der Preis niedriger ist, also die Jetzt-Orientierung ganz offensichtlich für Elektroautos spricht, wird die überwiegende Mehrheit sie kaufen.

Kann man lernen visionär zu denken?

Es gibt den idealen besten Fall und den zweitbesten Fall. Die wirkungsvollsten Visionen haben Menschen entweder durch Zufall oder durch ein wenig Hartnäckigkeit und ansonsten als Naturtalent entwickelt. Es gibt aber weitaus mehr Unternehmer und politische Entscheider als es Naturtalente für Visionen gibt. Also müssen diese den zweitbesten Weg gehen. Dieser besteht darin, einen methodischen Prozess zu durchlaufen, an dessen Ende mit einiger Gewissheit eine Vision für ihr Unternehmen steht, die zukunftsrobust, motivierend und in der Praxis wirksam ist. Ja, man kann das lernen.

Damit die Zukunft besser wird als die Gegenwart, müssen wir lernen, mehr und nützlicher aus der Zukunft zu lernen. Klicken Sie um zu Tweeten

 

Befassen wir uns zu wenig mit der Zukunft?

Schauen wir uns die eben beschriebenen Folgen unserer Kurzsichtigkeit an. Dann muss die Diagnose gestellt werden, dass wir die Zukunft viel zu wenig im Blick haben und verstehen. Unsere Gehirne haben sich in den letzten 20.000 Jahren physisch nicht verändert. Wir sind gemacht für ein Leben im Hier und Jetzt, wir sind „Homo Präsens“. Damit die Zukunft besser wird als die Gegenwart, müssen wir lernen, mehr und nützlicher aus der Zukunft zu lernen.

Wann und wo haben Sie Ihre besten Ideen?

Da habe ich keinen besonderen Orte oder Zeiten. Ich halte es für einen Mythos, dass die besten Ideen beim Duschen oder auf dem Klo entstehen. Bei mir sind es weitergedachte Anregungen aus Büchern, Nachrichten, Videos oder Audios genauso wie Gespräche oder Tagträume.

Vielen Dank für das sehr interessante Interview, Herr Mićić.

 

Über Dr. Pero Mićić

Pero Mićić gilt international als ein führender Experte für Zukunftsmanagement. Er ist Vorstand der FutureManagementGroup AG und Direktor des Leader’s Foresight Institute. Er berät die Führungsteams und Strategen großer Konzerne und führender Mittelständler bei der Ausrichtung auf Zukunftsmärkte und der Entwicklung fundierter Szenarien, motivierender Visionen und wirksamer Strategien. Pero Mićić ist mehrfacher und mit Preisen ausgezeichneter Buchautor, Dozent an renommierten Universitäten und Akademien, Gründungsmitglied der Association of Professional Futurists in den USA und war Vorsitzender des Beirats der European Futurists Conference.

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