November 2019 | Interview
Verena Utikal: Denkfehler verstehen und erkennen
Verena, du bist Verhaltensökonomin. Kannst du kurz beschreiben, womit sich die Verhaltensökonomie beschäftigt?
Die Verhaltensökonomik ist ein Teilgebiet der Ökonomie oder der Volkswirtschaftslehre. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie sich Menschen in ökonomischen Situationen verhalten. Eine ökonomische Situation ist eine Situation, in der wir uns entscheiden müssen, wie wir ein knappes Gut aufteilen oder verwenden. Das kann Geld sein, aber auch Zeit, Engagement, oder generell Ressourcen. Somit interessieren sich Verhaltensökonomen unter anderem auch für Fragestellungen aus der Psychologie, der Philosophie oder Biologie. Unsere Methoden beinhalten Theorie und Experimente, anhand derer wir Hypothesen testen, wie zum Beispiel: Handeln wir wirklich immer rational? Wann verhalten sich Menschen altruistisch? Wie können wir bestimmtes Verhalten fördern?
Bei deiner Arbeit untersuchst du auch menschliche Denkfehler. Kannst du uns ein Beispiel für einen typischen Denkfehler geben?
Irgendjemand biegt aus Versehen falsch nach links ab, jemand anderes fährt an der Kreuzung fälschlicherweise nach rechts. Das ist an sich noch nichts Besonderes und passiert ständig. Interessant wird es für Vehaltensökonomen hingegen, wenn aus bestimmten Gründen alle Personen systematisch den gleichen Fehler machen. Zum Beispiel alle falsch nach links abbiegen. Das wird dann oft Denkfehler oder kognitive Verzerrung genannt. Ich bevorzuge allerdings den Begriff intuitive Verzerrung. Diese Fehler entstehen nämlich nicht durch eine gestörte Kognition, sondern weil wir uns in diesen Momenten zu sehr auf unseren Bauch verlassen.
Eine typische und sehr bekannte intuitive Verzerrung ist der „Mere Exposure Effekt“, oder auf Deutsch der „Effekt des bloßen Kontakts“. Dieser Effekt besagt, dass wir eine Sache, die wir anfangs neutral betrachten, positiver bewerten, je öfter wir sie wahrnehmen oder mit ihr in Kontakt kommen. Ein Beispiel: Intuitiv kommt uns Bewerberin A sympathischer vor. Dass dies daran liegt, dass wir sie (oder jemanden, der ihr ähnlich sieht) schon mal gesehen haben, realisieren wir aber nicht. Die Wirkung entfaltet sich unbewusst. Natürlich ist die Anwendung dieses Effekts im Marketing sehr beliebt.
Gibt es auch Denkfehler, die uns davon abhalten, innovativ zu werden?
Es gibt leider Duzende. Ich beschreibe mal drei besonders mächtige Vertreter.
- Der „Mere Exposure Effekt“ sorgt dafür, dass wir Dinge, die wir bereits kennen, positiver wahrnehmen als neue, unbekannte Dinge. Das ist natürlich ein großes Hindernis auf dem Weg zur Innovation. Andere und auch uns selbst von einer neuen Idee zu überzeugen, kann dadurch beschwerlich werden.
- Wir lassen uns leicht von Autoritäten beeinflussen. Das können Vorgesetzte sein, die bestimmte Vorstellungen haben, und gegen die wir uns nicht auflehnen möchten. Das können aber auch Produkte sein, die wir als unangreifbar wahrnehmen.
- Viele Menschen tun sich sehr schwer damit, den Status quo anzuzweifeln, geschweige denn zu verändern. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass eine große Mehrheit die Präferenz hat, bei bereits etablierten Prozeduren, Abläufen und Ideen zu bleiben. Das ist natürlich Gift für Innovation.
Können wir diese Denkfehler erkennen und vermeiden? Wenn ja, wie?
Dazu gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Zunächst die schlechte: Intuitive Verzerrungen sind ähnlich persistent wie andere intuitive Täuschungen. Das prominenteste Beispiel sind sicherlich optische Täuschungen. Du kennst bestimmt die Darstellung mit den beiden exakt gleich langen Strichen:
Wir können uns die Striche immer wieder ansehen, und uns vergewissern, dass sie wirklich gleich lang sind, aber beim nächsten Mal sieht der untere Strich trotzdem wieder länger aus.
Der erste und wichtigste Schritt Denkfehler zu erkennen und zu vermeiden, ist das Wissen über die Existenz der intuitiven Verzerrungen, und darüber in welchen Situationen wir besonders anfällig dafür sind. So können wir uns gezielt überprüfen und mit uns mit Hilfe von Trainings schulen, die Fehler zu bemerken. Ein weiterer Ansatz ist es, sich und andere dabei zu unterstützen, gar nicht erst in Situationen zu gelangen, in denen die Verzerrungen sehr stark sind. Man verändert die Entscheidungsarchitektur der Situation.
Hier eine Möglichkeit, den Autoritätsbias zu vermeiden: In Meetings spricht der Chef nicht als erstes. So wird keine Autoritätsmeinung etabliert, der sich dann natürlich auch keiner anschließen kann.
Gibt es umgekehrt auch Denkfehler, die Innovationen begünstigen?
Im Innovationsprozess können intuitive Verzerrungen bis zu einem gewissen Grad tatsächlich hilfreich sein. Eine gemäßigte Portion „Overconfidence“ – die Tendenz eigene Leistungen und Ideen zu überschätzen – vertreibt Mitbewerber und lässt das eigene Projekt erstrahlen.
Welche Rolle spielt unsere Intuition beim Entwickeln visionärer Gedanken?
Am Anfang eines Innovationsprozesses steht ja immer das „Rumspinnen“, Ausprobieren, Nachdenken ohne an mögliche Beschränkungen zu denken. In diesem Prozess den Kopf auch mal auszuschalten und nur auf den Bauch zu hören, ist sicherlich eine gute Idee.
Ich kenne viele Menschen mit tollen Ideen, die sie aber leider nicht umsetzen. Hast du einen Tipp, wir wie wir es schaffen, vielversprechende Ideen tatsächlich umzusetzen?
Häufig fehlt uns die Zeit kreative Projekte anzugehen. Unser Fokus liegt oft auf dem Jonglieren mit dem „Daily Business“. Hier können Zeitinseln helfen. Viele Unternehmen wie zum Beispiel Google bieten ihren Mitarbeitern eine sogenannte Kreativitätszeit, in denen sie ungestört kreative Projekte vorantreiben können. Das kann auch privat sinnvoll sein. Wichtig ist aber, dass man konsequent bleibt, und diese Zeit als gesetzt ansieht und sie nutzt.
Gibt es noch eine Frage, von der du dir gewünscht hättest, dass ich sie dir gestellt hätte? Wenn ja, wie lautet sie?
Welche intuitive Verzerrung findest du am spannendsten?
Und wie lautet deine Antwort darauf?
Meine Lieblings-Verzerrung ist der Bestätigungsfehler / Confirmation Bias, vor allem, weil ich dafür selber sehr anfällig bin. Wenn die Gedanken „Hab ich’s doch gewusst.“ oder „Aha, war ja klar.“ in deinem Kopf auftauchen, ist das mit ziemlicher Sicherheit ein Zeichen für den Confirmation Bias. Menschen besitzen die Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen erfüllen. Durch intensives Training und dem bewussten Offen-Sein für andere Erklärungen und Ansichten, komme ich dem Effekt mittlerweile gut auf die Schliche, und habe die Verzerrung besser im Griff.
Vielen Dank für unser spannendes Gespräch, Verena!
Über Dr. Verena Utikal:
Dr. Verena Utikal ist Mathematikerin und promovierte Volkswirtin im Bereich Verhaltensökonomik / Behavioral Economics. Sie arbeitete als Professorin an der Universität Nürnberg und der Universität Ulm und verfügt über zehn Jahre Erfahrung im Bereich der Entscheidungs- und Verhaltensforschung. Zudem arbeitet sie selbständig als Beraterin & Trainerin, als Coach und ist Moderatorin des ntv-Podcasts „Ja. Nein. Vielleicht.“.