Digitalisierung als Religion

Oktober 2019 | Interview

Christian Hoffmeister: Digitalisierung als Religion

Christian, du hast schon mehrere Bücher (u.a. zu digitalen Geschäftsmodellen) geschrieben. Warum hattest du das Gefühl, dass dein nächstes Buch das kontroverse „Google unser“ sein muss?

Das Thema stand bei mir eigentlich schon ganz lange an, da mich bereits seit meiner Studienzeit der Zusammenhang zwischen Religion, Ökonomie und Unternehmensstrategien fasziniert. Der Zeitpunkt schien mir richtig, weil ich immer stärker merke, wie ideologisch das Thema inzwischen aufgeladen ist. In vielen Unternehmen wird kein kritischer und rationaler Blick mehr auf die Digitalisierung geworfen. Alle Probleme sollen nur noch durch digitale Technologie und digitale Innovationen gelöst werden. Das ist schon recht nahe an einer Erlösungslehre wie in den traditionellen Religionen.

Du schreibst in deinem Buch von „Innovationsmythen“. Was genau meinst du damit?

Mythen können als Erzählungen verstanden werden, die die Welt recht einfach erklären aber auch verklären. Ein ganz typischer Mythos aus den klassischen Religionen ist die Erschaffung des Menschen von Gott als Krone der Schöpfung. Interessanterweise basiert darauf bis heute die Überlegenheit des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen. Und das, obwohl zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass wir Menschen weder besonders einzigartig, überlegen noch besonders intelligent sind. Wenn beim Lesen genau dieser Sätze ein mulmiges oder negatives Gefühl entsteht, dann hat der Mythos das erreicht, was er sollte. Er hält uns davon ab, nach anderen Erklärungen zu suchen und andere Sichtweisen einzunehmen.

Der Innovationsmythos ist ein Mythos in der digitalen Ökonomie. Apple, Google, Amazon und Co. sind erfolgreich, weil sie Innovationen geschaffen haben, auf die die Menschheit gewartet hat. Ja, von denen die Menschheit noch nicht einmal wusste, dass sie diese Dinge braucht. Ob das wirklich so ist, wird ausgeblendet. Man sucht nach keinen anderen Erklärungsmustern. Steve Jobs war der geniale Innovator und seit er tot ist, schafft es Apple nicht mehr, „the next big thing“ zu liefern. Während Jobs das Telefon neu erfunden hat (auf der Keynote sagte er damals selbst: „Today Apple reinvents the phone.“) passiert unter Tim Cook nichts mehr Aufregendes.

Also machen sich alle Unternehmen auf, „the next big thing“ zu suchen, von dem man gar nicht weiß, was es eigentlich ist. Aber, wenn man – genau wie in den klassischen Religionen auch – zu den genialen Innovatoren gehört, dann wird man es wissen, wenn man es gefunden hat und im Anschluss mit unermesslichem Erfolg belohnt. Allerdings kann man sich auf diese Weise nicht wirklich weiterentwickeln, da man auf etwas wartet, das so nie passieren wird. Der Innovationsmythos wird zum Paradox und fördert Stillstand.

Das Erschreckende ist, dass die allermeisten den Begriff 'Digitalisierung' gar nicht erklären können. Klicken Sie um zu Tweeten

 

Du erwähnst auch die „Innovation Labs“, die seit vielen Jahren weltweit wie Pilze aus dem Boden schießen. Woher kommt dieser Trend?

Genau aus dem eben beschriebenen „Glaubensbekenntnis“. Innovation schafft nachhaltigen und dauerhaften Erfolg. Und am besten ist man dort innovativ, wo die Quelle des Wissens liegt und die Ideen für neue bahnbrechende Innovationen nur so sprudeln – im Silicon Valley. Das wiederum ist für die dort ansässigen Unternehmen gut, weil sie schnell und früh auf neue Technologien und Umsetzungen zurückgreifen können. Auch hier greift ein typisches mythologisches Muster: Man benötigt eine Nähe zu heiligen Orten, denn dort springt die heilbringende Wirkung auch auf den Menschen über. Besonders bekannt dürfte in diesem Zusammenhang auch die Geschichte von Kay Dieckmann und dessen wundersamer Wandlung vom printlastigen Bild-Chefredakteur zum digitalen Nerd sein. Sie soll genau diese Bedeutung des „heiligen Tals“ belegen.

Du schreibst „Quantifiziere dich!“ sei das wahre Paradigma der digitalen Gesellschaft. Wie manifestiert sich dieses Paradigma in unserem Alltag?

Es ist in all unseren Lebensbereichen zu finden. Wir zählen Schritte, Kalorien, Geld …. Wir wollen die Altersvorsorge berechnen und unsere Gesundheit mittels Datenanalyse optimieren. Bahnfahrten müssen auf die Minute ankommen, sonst sind wir unzufrieden. Schließlich ist Zeit Geld. Schönheit ist eine universelle Formel, die ein Chirurg auf alle Gesichter und Körper anwenden kann. Und wer kein Geld hat, sich zu optimieren, der wendet Filter auf Instagram und Co. an. Schlafen, Wiegen, Fahren, Fliegen, Wetter, Zeit … Die Welt ist digital, ziffernbasiert und soll exakt gemessen werden können.

Dabei tun wir so, als ob all diese Einteilungen natürlich wären. Sind sie aber nicht, weil all diese Systeme von uns Menschen geschaffen wurden. Überhaupt nur deshalb können unsere modernen Computer so gut funktionieren.

„Transform or die!“, „Digitalisiert euch!“ usw. Unsere Welt ist voll mit „digitalen Imperativen“, die uns einen alternativlosen Digitalisierungs-Zwang suggerieren. Wie denkst du darüber?

Das Erschreckende daran ist ja, dass die allermeisten den Begriff „Digitalisierung“ gar nicht erklären können. Da wird eben nur mit Buzzwords geantwortet – digital ist das Gegenteil von analog oder hat irgendwas mit 0 und 1 zu tun. Das ist ja so, als ob man die Frage „Was ist Leben?“ mit „Leben ist das Gegenteil von Tod.“ beantwortet. Mein Buch soll vor allem darüber aufklären, was „Digitalisierung“ wirklich ist und was sie für den einzelnen Menschen bedeutet.

Wir werden immer mehr zu Systemadministratoren unseres Lebens. Klicken Sie um zu Tweeten

 

Wie hältst du es selbst mit digitaler Technik? Nutzt du selbst auch Smartwatches, Sprachassistenten usw. oder bist du hier eher zurückhaltender?

Ich nutze sie natürlich, bin aber in der eigenen Anwendung zurückhaltender. Vor allem, weil ich in vielen dieser Tools keinen Mehrwert mehr erkenne. Ich habe ein Smartphone – wozu brauche ich eine Smartwatch? Warum sollte ich eine Wohnung mit einem Sprachassistenten steuern und warum sollte ich mein Auto mit 100 zusätzlichen Features individualisieren wollen? Wie groß ist der Aufwand, das alles zu administrieren und zu automatisieren – nur, damit ich mich am Ende nicht mehr von der Couch bewegen muss? Wir werden immer mehr zu Systemadministratoren unseres Lebens und das will ich nicht wirklich sein.

Wie sähe für dich eine lebenswerte Zukunft aus?

Eine Zukunft, in der wir in Balance im Hier und Jetzt leben. Und in der wir den Wert des Tuns mit unseren Sinnen und unserem Körper wiederentdecken.

Vielen Dank für unser inspirierendes Gespräch, Christian!

 

Über Christian Hoffmeister

Christian Hoffmeister (*1973, Kommunikationswissenschaftler) ist ein international anerkannter Experte im Bereich der Digitalisierung. Mit dem von ihm 2006 gegründeten Institut für digitale Innovation und Wandel (DCI) in Hamburg berät er zahlreiche europäische Unternehmen und forscht über die Auswirkungen der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist Autor vieler erfolgreicher Bücher, unter anderem des Fachbuch-Bestsellers »Digital Business Modelling«. Als Dozent lehrt er an verschiedenen Hochschulen im Themenfeld der Digitalen Ökonomie, unter anderem an der Hamburg Media School und der Hochschule Fresenius.

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