Intuition

Dezember 2019 | Interview

Gerd Gigerenzer: Unsere Intuition nutzen

Herr Gigerenzer, wie wird man Intuitions- und Risikoforscher?

Ich habe mein Studium mit Musik finanziert, und als Musiker habe ich gelernt wie wichtig Intuition bei Improvisation und Komposition ist. Heute verbringe ich viel Zeit mit Experten – Ärzten, Richtern, Unternehmern – für die Intuition und der informierte Umgang mit Risiken unentbehrlich ist. Wie trifft man gute Entscheidungen? Wann sollte man sich auf Intuition und Erfahrung verlassen, und wann ist mehr Information wirklich nützlich? Wie geht man mit Risiken um?

In Ihrem preisgekrönten Buch „Bauchentscheidungen“ plädieren Sie dafür, bei komplexen Entscheidungen nicht nur auf unseren Kopf, sondern auch auf unseren Bauch zu hören. Warum?

Intuition beruht auf jahrelanger Erfahrung – im Umgang mit Menschen, in der Auswahl von Personen, oder im Erkennen von innovativen wissenschaftlichen Fragen. Im Allgemeinen spürt man schnell, was man tun soll, aber eine Intuition kann man eben nicht begründen. Intuition ist jedoch keine Willkür, kein sechster Sinn oder etwas, das nur Frauen haben. Wir Männer haben auch Intuition. Oft wird die Frage gestellt: Kopf oder Bauch? Aber Kopf und Bauch sind keine Gegensätze, meistens brauchen Sie beides: Kopf und Bauch.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer weniger Führungskräfte bereit sind, Verantwortung zu tragen. Share on X

 

Ihr Buch erschien im Jahr 2007. Wie fällt Ihre Bilanz 12 Jahre nach der Veröffentlichung aus? Vertrauen wir unserem Kopf immer noch mehr als unserem Bauchgefühl?

Ich habe inzwischen mehrere Studien mit den Führungskräften von DAX-notierten Unternehmen durchgeführt. Ich habe sie gefragt, wie oft wichtige professionelle Entscheidungen, die sie treffen, am Ende eine Bauchentscheidung sind („Am Ende“ ist wesentlich, da man ja erst einmal die Daten durchsieht.). Die typische Antwort war: 50 Prozent. Die gleichen Führungskräfte würden dies aber in der Öffentlichkeit nie zugeben. Man hat Angst.

Bei einer Bauchentscheidung muss man die Verantwortung selbst tragen. Und wir leben in einer Gesellschaft, in der immer weniger Führungskräfte bereit sind, Verantwortung zu tragen. Um mit dieser Angst umzugehen, stellt man dann einen Mitarbeiter ab, der nach Gründen für die schon getroffene Entscheidung sucht. Oder man stellt eine Beratungsfirma ein, die dann die Entscheidung im Nachhinein begründet. Was für eine Verschwendung von Zeit, Geld und Intelligenz! Wir müssen noch einen weiten Weg gehen, um rational mit Intuition umzugehen.

Immer mehr Menschen nutzen Smartphones, Wearables und Apps, um ihre Schritte zu zählen, den passenden Partner zu finden oder ihre Kinder zu tracken. Warum vertrauen wir Programmen und Algorithmen mehr als uns selbst?

Neue Techniken haben Menschen immer verändert. Das ist an sich durchaus positiv, wenn die Technik dafür auch Entsprechendes liefert. Nur blindes Vertrauen wäre unklug. Die Wahrscheinlichkeit über eine Dating-App die große Liebe zu finden, ist beispielsweise nicht höher als über Freunde und Familie, nur teurer. Viele Gesundheits-Apps sind nicht auf dem Stand der medizinischen Forschung. Und Eltern wie Staaten werden durch die Möglichkeit digitaler Techniken zur totalen Überwachung verführt und glauben, dass es eine gute Idee sei, jeden – jung oder alt – ständig zu kontrollieren.

Dabei fehlt es überall an digitaler Risikokompetenz. Die meisten Deutschen kaufen inzwischen Smart-TVs. Die wenigsten wissen, dass ihr Smart-TV alle persönlichen Gespräche aufzeichnet und an Dritte weiterleitet. Fast die Hälfte der Europäer hat keine Idee, was ein Algorithmus ist – und der steckt in jeder App.

Wie erklären Sie sich unseren modernen, menschlichen Drang alles quantifizieren, kalkulieren und optimieren zu wollen?

Der Glaube an Zahlen ist nichts Neues, nur ermöglichen Apps inzwischen, Zahlen für so gut wie alles zu erzeugen, ob es Sinn macht oder nicht. Das Problem ist die fehlende Risikokompetenz, die dazu führt, dass viele Menschen gar nicht verstehen, was die Zahlen – etwa im medizinischen Bereich – wirklich bedeuten. Viele wissen ja nicht einmal, was es bedeutet, wenn sie auf dem Smartphone lesen, dass es morgen mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent regnet. 30 Prozent von was?

Die meisten Deutschen denken, dass es morgen in 30 Prozent der Zeit regnet, andere, dass es in 30 Prozent der Gegend regnet. Die meisten Spanier glauben, dass es bedeutet, dass drei Meteorologen meinen es wird regnen, und sieben nicht. In Wirklichkeit ist damit gemeint, dass es an 30 Prozent der Tage regnen wird, für die diese Vorhersage getroffen wurde. Also wahrscheinlich morgen nicht.

Kein Wissenschaftler kann ohne Intuition kreativ und innovativ sein. Share on X

 

Welche Auswirkungen haben all diese Entwicklungen auf unsere menschliche Kreativität und Innovationskraft?

Es gibt ein wirksames Rezept zur Verhinderung von Innovation:

  1. Misstraue jeder Bauchentscheidung.
  2. Verlange eine Begründung für jede neue Idee.
  3. Schaffe eine Absicherungskultur mit Dokumentation, Dokumentation und noch mehr Dokumentation.

Zusammengefasst: Nur nichts wagen, nicht scheitern können, und nicht in der Verantwortung stehen. Ich sehe das in vielen Organisationen, von DAX-notierten Firmen bis zu Behörden und Universitäten. In Deutschland entwickeln wir uns weg von einer Leistungs- hin zu einer Absicherungskultur.

Trotz all unseres technischen Fortschritts: Wir leben in einer Zeit, die in vielen Bereichen völlig neue Ideen und Herangehensweisen verlangt. Wie können wir unsere Intuition optimal nutzen, um genau diese Innovationen zu entwickeln?

Wie wäre es mit einer Antwort von Albert Einstein: „Der intuitive Geist ist ein Geschenk und der rationale Geist sein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“ Kein Wissenschaftler kann ohne Intuition kreativ und innovativ sein. Man kann nicht alles berechnen. Intuition ist der wichtigste Weg, neue Türen zu öffnen. Berechnung braucht man erst nachher, um herauszufinden durch welche Türen man gehen soll.

Haben Sie einen besonderen Tipp oder eine Übung für unsere Leser, wie sie ihre Intuition im Alltag trainieren können?

Jeder der neugierig ist, findet viele Möglichkeiten. Benutzen Sie ihr Navigationssystem nur, wenn Sie eine neue Strecke fahren, in allen anderen Fällen schalten Sie es ab, um ihre räumliche Intuition zu trainieren. Oder: Sprechen Sie mehr mit Menschen, sehen Sie genau hin, so dass Sie besser verstehen was der andere fühlt oder hofft. Das hilft, eine intuitive Psychologie auszubilden. Oder wenn Sie ganz verlernt haben, Ihre innere Stimme zu hören, dann können Sie folgendes versuchen: Nehmen wir an, Sie sind eine Frau und müssen sich zwischen zwei Männern entscheiden, können sich aber nicht entscheiden. Dann nehmen Sie eine Münze und werfen sie. Während sich diese in der Luft dreht, werden Sie wahrscheinlich spüren, welche Seite nicht oben liegen soll. Ihre innere Stimme hat sich gemeldet.

Danke für unser wunderbares Gespräch, Herr Gigerenzer!

 

Über Gerd Gigerenzer:

Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz in Berlin. Er ist mehrfacher Ehrendoktor, Gastprofessor und Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er war Fellow am Center for Advanced Studies in Stanford und Gastwissenschaftler in Harvard und Princeton. Im Jahr 2011 wurde er mit dem Deutschen Psychologie- und dem Communicator-Preis ausgezeichnet. Gerd Gigerenzer berät und trainiert Manager, Richter und Ärzte in der Kunst des Entscheidens und im Umgang mit Risiken und Unsicherheiten. Seine beiden letzten Erfolgsbücher heißen „Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ (2014) und „Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“ (2008).


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