Juni 2021 | Interview
Gitta Peyn: Systemische Bildung fördern
Frau Peyn, wie wird man Systemforscherin?
Vielleicht sollten wir eher fragen, wann wir damit aufhören, Systemforscher zu sein.
Denn wir werden mit der Fähigkeit hohe Komplexitäten zu managen, die Welt mathematisch zu untersuchen und systemisch zu denken, geboren. Kinder sind herausragende Systemforscher, Mathematiker und Komplexitätsmanager. Schauen Sie sich nur mal an, welche unglaublichen Leistungen Kinder in den ersten Lebensmonaten und -jahren vollbringen: wie sie im Nullkommanichts eine Fremdsprache lernen (nämlich die ihrer Eltern), ihre Welt erkunden, Zusammenhänge zwischen oben/unten, links/rechts, vorher/nachher herstellen, ohne dass ihnen jemand das erklären müsste. Wir Menschen sind eine beeindruckende Spezies mit beeindruckenden Fähigkeiten – wir haben bislang nur noch nicht wirklich herausgefunden, wie wir sie systemisch ausbauen und konstruktiver zum Wohl von Mensch und Planet nutzen können.
Aber, um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Ich habe einfach nie damit aufgehört, eine Systemforscherin zu sein. Das war nicht immer leicht in einer Welt, in der Kindern bereits im Kindergarten systemisch-mathematisch-forschendes Lernen ausgetrieben wird. Trotzdem ist es mir gelungen, mir genau das zu bewahren, was unsere völlig veralteten Bildungs- und Konditionierungssysteme sonst in Kindern und Jugendlichen zerstören – und als Erwachsene kreuzunglücklich macht.
Zudem hatte ich das große Glück einer Außenseiterposition, die es mir ermöglicht hat, Fragen zu stellen, die andere Kinder irgendwann nicht mehr gestellt haben. Und diese Position habe ich mir geistig bis heute erhalten: Ich gehe in Systeme hinein, erlebe und erfahre sie. Dann verlasse ich sie wieder und analysiere mein Erleben.
Ich gehe in Systeme hinein, erlebe und erfahre sie. Dann verlasse ich sie wieder und analysiere mein Erleben. Share on X
Warum ist es so wichtig, dass wir uns mit Systemen auseinandersetzen?
Auch hier: Wir tun das ohnehin ständig. Wir sind immer mitten drin, immer verbunden – auch, wenn wir vielleicht versuchen das auszublenden. Am einfachsten lässt sich der Begriff „System“ mit „Relationen“ und „Verbindungen“ beschreiben. Wenn mich Teilnehmer meiner Seminare fragen, wie sie sich das mit der Systemik und den systemischen Zusammenhängen vorstellen können, erzähle ich immer gerne diese kleine Geschichte:
„Eine alleinerziehende Frau arbeitet an der Supermarktkasse. Sie hatte einen schweren Tag. Es war drückend heiß und mehrere Kunden hatten schlechte Laune und haben sie an ihr ausgelassen. Es gab außerdem noch Streit mit dem Chef. Die Frau kommt nach Hause und kann ihre Gefühle nicht abstellen, sondern fährt ihre beiden, etwas nörgeligen Kinder an. Diese gehen weinend zu Bett und sind am nächsten Tag im Kindergarten unausgeschlafen und unausstehlich.
Ein anderes Kind im Kindergarten wird von ihnen gemobbt, es kommt nach Hause und lässt dort wiederum seinen Gefühlen freien Lauf. Die Mutter hat schon den ganzen Tag Migräne, kann das nicht bewältigen. Der Vater, der nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, hat gleich mehrere Probleme zu bewältigen. Die Nacht ist anstrengend, da das Kind in seiner Nervosität Bauchschmerzen bekommt und der Vater kein Auge zu machen kann.
Am nächsten Morgen geht der Vater, übermüdet und überreizt, zur Arbeit. In einer Krisenbesprechung wird er gefragt, ob ein Militärschlag gegen den Iran durchgeführt werden soll – er ist militärischer Berater des amerikanischen Präsidenten …“
Auch, wenn diese Geschichte überspitzt ist: Systemforschung hat viel Ähnlichkeiten mit Chaosphysik. So wie ein Schmetterlingsschlag in Tokio einen Hurricane in Idaho verursachen kann, kann ein unfreundlicher Kunde an der Supermarktkasse einer überarbeiteten Kassiererin einen Militärschlag auslösen. Deshalb ist wichtig zu wissen, wie Systeme genau funktionieren. Was sind ihre universellen Merkmale? Wie können wir sie abbilden? Welche Rolle spielt unsere eigene Beobachtung im Kontext unserer Analysen und so weiter.
Der französische Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau sagte einmal „Die meisten Menschen leben in den Ruinen ihrer Gewohnheiten.“ Welche Gedanken ruft dieses Zitat bei Ihnen hervor?
Ich finde so etwas immer ein wenig negativ-elitär – muss mir dabei aber ständig selbst über die Schulter sehen, weil ich sowas auch immer wieder mal sage.
Unsere Gewohnheiten haben wir ja nicht von ungefähr. Um es systemisch zu sagen: Alle Systeme rhythmisieren sich selbst. So bringen sie Gewohnheiten hervor. Ruinen müssen dabei gar nicht unbedingt etwas Schlechtes sein – sie können auch schön, mystisch, unbestimmt, vage im Nebel unserer Vorstellung oder Erinnerung sein. Lassen wir den Leuten doch auch mal ihre Ruinen, vielleicht können darauf wilde Blumen wachsen. Ich würde eher sagen, dass wir einfach noch keine Gesellschaften hervorgebracht haben, die Menschen dabei helfen können, besser mit Komplexität, Unbestimmtheit, Unruhe, Unklarheit, Ambivalenz und Polyvalenz umzugehen.
Alle Systeme rhythmisieren sich selbst. So bringen sie Gewohnheiten hervor. Share on X
Wissen Sie, ich mag den Gedanken von Selbstoptimierung nicht, sondern versuche Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Sicher, auf Twitter mal eine Polarisierung rauszuhauen, ist die eine Sache. Wenn ich aber wirklich Veränderung will, müsste ich erst einmal danach fragen, was Cocteau mit „Ruinen“ meint. Eigentlich nennt man so Häuser, in denen man nicht mehr wohnen kann, aber stimmt das denn in Bezug auf Menschen? Sicher, wir zerstören unsere Umwelt mit Gewohnheiten, die einfach nicht mehr passen. Aber es ist doch nicht so, dass Leute hingehen und sagen: „Wenn ich mal groß bin, mache ich die Welt kaputt“.
Insofern frage ich als Systemforscherin lieber, welche Funktion diese Ruinen erfüllen. Und ich stelle mir die Frage, wie wir gesamtgesellschaftlich dafür sorgen, dass wir starke, selbstbewusste Individuen und Bürger bekommen, die keine Angst davor haben, ihre inneren und äußeren Häuser schöner und überlebensfähiger zu bauen.
Welche Eigenschaften weisen Systeme auf, die Innovation und Fortschritt begünstigen?
Sie sind vor allem konfliktstark! Das überrascht Viele, weil Konflikte weitestgehend negativ konnotiert sind. In unserer heutigen Zeit versuchen zu viele Leute, alles emotional glattzubügeln. Das Problem: In Gesellschaften, die keine Konflikte mehr austragen können, entsteht nichts wirklich Neues mehr. Sie werden eines Tages entweder einfach in Monotonien auslaufen – das können wir mittlerweile sogar mit der Computeremulation zeigen – oder sie werden von einem alles verschlingenden Konflikt zerstört.
Schauen Sie sich mal diejenigen an, die kooperationsstarke Systeme bauen: Sie werden immer feststellen, dass das in der Regel Leute sind, die auch mal unbequem sein können. Ich suche immer nach solchen Leuten, wenn ich etwas aufbauen will. Ich misstraue Menschen, die versuchen, „weiterentwickelt“ zu sein oder die ständig dabei sind, alles psychologisch abzuklopfen. Klar, Affektkontrolle ist eine gute Sache, aber ein richtiges Boot muss auch mal schaukeln.
Wenn ich das erzähle, gucken mich Einige immer wieder an, als hätte ich vor, den Teddybären ihrer kleinen Tochter zu ermorden. Aber es ist einfach ein systemischer Fakt: Alle Kooperationssysteme bringen augenblicklich Konflikte hervor. Also lernen wir doch besser gleich, damit klarzukommen und nicht davor wegzulaufen. Systeme, die Innovation begünstigen, schaffen konstruktive soziale Architekturen, die gleichzeitig eben Konflikte erlauben und sie nicht sofort abzuschaffen versuchen.
Alle Kooperationssysteme bringen augenblicklich Konflikte hervor. Also lernen wir doch besser, damit klarzukommen und nicht davor wegzulaufen. Share on X
Was ist noch relevant?
Natürlich gibt es einige Punkte, die ich aufführen kann, die für Innovation relevant sind: Resilienz, Neugier, effiziente Kooperations- und Konfliktstrategien. Aber das ist alles sehr auf den Punkt, während die großen Architekturen noch gar nicht stimmen.
Es fehlt an fundamentaler systemischer Bildung – das sehe ich immer wieder, wenn ich mich in den Social Media auf einen Streit einlasse (ein Unterfangen, das ich nur empfehlen kann, um sich über den Zustand der Gesellschaft zu informieren). Oder wenn ich mit Organisationsberatern und Coaches arbeite. Die Leute können das gar nicht. Sie wüssten nicht, mit welchen Konzepten sie das machen sollten. Ich kenne sogar Systemiker, die unter Systemforschung nur irgendwas Vages mit „Therapie und Soziales“ verstehen. Da herrscht teilweise ein furchteinflößender Relativismus. Oft gepaart mit einer solchen Angst vor Urteilen, dass schlussendlich gar keine Innovation mehr geht, ohne Rücksicht auf den letzten Empörten zu nehmen.
Vielen Dank! Ich freue mich auf den zweiten Teil unseres Interviews.
Über Gitta Peyn:
Gitta Peyn, Jahrgang 1965, ist eine deutsche System- und Kybernetikforscherin. Seit über dreißig Jahren arbeitet sie an einem universellen Referenzsystem für menschliche Kommunikation (FORMWELT) und an einer FORMenlogik zur Modellierung komplexer Entscheidungssysteme. Sie ist Gründerin des FORMWELTen-Instituts, Initiatorin der Larnaca-Conferences und Autorin beim Carl Auer Verlagsmagazin. 2022 wird im Carl Auer Verlag ihr Buch „Komplexitätsmanagement Praxis“ erscheinen.