Interview mit Karl-Heinz Brodbeck: Mut zu mehr Kreativität

Januar 2022 | Interview

Karl-Heinz Brodbeck: Mut zu mehr Kreativität

Herr Brodbeck, was bedeutet der Begriff „Kreativität“ für Sie?

Es ging mir immer darum, die nahezu ausschließliche Dominanz der ökonomischen Interessen in der – wenigstens angewandten – Kreativitätsforschung zurückzudrängen. Kreativität gilt es aus den Fesseln ökonomischer Interessen zu befreien, die an gewinnbringenden Innovationen interessiert sind. Wolfgang Ullrich hat geschrieben: „Kaum jemand ist ein besserer Zeuge für die Aufwertung der Kreativität zu einer allen Menschen gemeinsamen Fähigkeit als Karl-Heinz Brodbeck“. Kreativität ist die Fortführung der Selbstbestimmung der Menschen, die Erweiterung und Konkretisierung ihrer Vernunft und Freiheit.

Sie schreiben in Ihren Büchern, dass die Wahrnehmung und Förderung unserer individuellen Kreativität viel entscheidender ist als das Kennen und Anwenden von Kreativitätstechniken. Warum?

Man kann „Kreativität“ formal durch Handlungen, Gedanken und Produkte definieren, die sich stets dadurch auszeichnen, dass sie Neuheit und Bewertung (im weitesten Sinn) vereinen. Wir sind vielfach gefesselt in einem Netz der Gewohnheiten, der Routinen. Sie haben oder hatten für uns einmal einen positiven Wert, können aber zu Fesseln werden. Im festen Korsett schematischer Bewertungen entsteht nichts Neues.

Wie aber können wir Gewohnheiten auflösen? Durch Bewusstmachen, durch die Achtsamkeit auf das, was man tut oder denkt. Darin liegt dann eine Öffnung, die es erlaubt, Neues eintreten zu lassen. Das Neue folgt keiner Regel. Man kann es nicht aus dem Alten „ableiten“. Die alten Gewohnheiten sind untrennbar mit Emotionen, mit Unbewusstem, mit einer Fülle von impliziten Wertungen verknüpft. Indem wir die Gewohnheiten durch Achtsamkeit „aufwecken“, können sie verflüssigt werden. Achtsamkeit zu üben ist also der Schlüssel, die Voraussetzung dafür, Neues zu schaffen, ihm durch das Außerkraftsetzen von Wertungen überhaupt erst Raum zu geben.

Nachher kann man aus dem so entstandenen Neuen auswählen, also bewerten was sich zeigt. Wer in der Wahrnehmung immer nur „Berge“ sieht, kann nie den Mont Sainte-Victoire wie Cézanne malen, der sagte, man muss sich selbst verlieren und ganz eintauchen in die Wahrnehmung. Das Achten auf die Achtsamkeit ist hierzu der Schlüssel.

Es ging mir immer darum, die Dominanz der ökonomischen Interessen in der Kreativitätsforschung zurückzudrängen. Klicken Sie um zu Tweeten

 

Ihre ersten Bücher zum Thema „Kreativität“ erschienen bereits in den 1990er-Jahren. Inwieweit hat sich Ihr persönlicher Blick auf dieses Thema seitdem verändert?

Eigentlich sehr wenig. Ich habe mich neuen Themen zugewandt und vor allem auch die Kreativität in den Wissenschaften untersucht. Dabei ist mir immer klarer geworden, dass die wichtigsten kreativen Prozesse darin bestehen, die selbst angelegten Fesseln des Denkens loszulassen.

Sie sind Buddhist. Gibt es im Buddhismus eine andere Sicht auf die menschliche Kreativität als hier bei uns im Westen? Wenn ja, worin liegt der Unterschied?

„Buddhismus“ ist für mich – neben der eher privaten Meditationspraxis – vor allem auch eine Philosophie – eine Philosophie der Offenheit. Im Buddhismus blickt man nicht so sehr auf ein definierbares Ergebnis des Denkens oder Handelns. Man blickt auf den Weg, auf dem man sich selbst verwandelt und sich als abgegrenztes Ego loslässt.

Buddhismus – so könnte ich sagen – ist die Entdeckung der Kreativität als unsere je eigene Natur. Wir sprechen im Buddhismus von „Buddha-Natur“. In einem tibetischen Text wird diese Buddha-Natur auch „universal creativity“ genannt. Ein äußeres, bewertendes Urteil, wie bei „erfolgreichen“ Innovationen, ist hier unwichtig. Mehr noch, der Blick nach außen ist sogar ein Haupthindernis.

Überall wird heute über Transformation, Innovation und Disruption gesprochen. In Wirklichkeit kommen wir bei wichtigen Zukunftsthemen wie z. B. dem Klimaschutz oder der Neugestaltung unseres Bildungssystems aber nicht voran. Was läuft falsch?

Das liegt daran, dass es gar nicht um diese genannten Ziele geht. Es geht um deren gewinnträchtige Instrumentalisierung. Bildung soll heute von der Anwendung her – gleichsam rückwärts – als funktionalisierte Aus-Bildung gestaltet werden. Und in der Politik gibt es eine Inflation neuer „Ziele“, die doch alle nur dasselbe sagen und die nur eine Sprache sprechen: Die der neuen Vorschrift und des Geldes. Die Selbst-Bildung, die Kultur des Denkens und Wahrnehmens spielen hier kaum eine Rolle. Wo kann hier ein neuer Blick Platz finden? Jede Problemlösung bedarf eines neuen Blicks.

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Warum halten wir an alten Gewohnheiten fest, obwohl wir wissen, dass sie uns und anderen schaden?

Aus Angst, unser „Ich-Territorium“ zu beschädigen. Und wenn diese Angst zu einer gesellschaftlichen Massenpsychose wird, dann wandeln sich Gewohnheiten in Muster der Selbstversklavung. Sie bleibt unerkannt, weil das Selbst der Menschen dann aus Angstmustern, der mächtigsten Gewohnheit, besteht.

Sie schreiben, dass wir lieber kreative Produkte anderer kaufen, als selbst kreativ zu sein. Durch diese Gewohnheit des Habenwollens, des Konsums, verpassen wir jedoch nichts weniger als uns selbst. Wie können wir dieses Muster durchbrechen?

Dazu müsste Kreativität ein primäres Bildungsziel werden. Hier sehe ich in der gegenwärtigen Situation leider keinen Willen und keinen Weg.

Geben Sie uns einen kleinen Ausblick! Welche Rolle wird unsere menschliche Kreativität in Zukunft im Zeitalter von KI, Robotik und Digitalisierung spielen?

Sie wird nur noch bei Eliten einen Unterschlupf finden. Es wäre schön, wenn viele Menschen kreativ würden; das käme einer wahren Revolution gleich. KI, Robotik und Digitalisierung bedeuten eine globale Entmündigung, gleichsam eine Materialisierung dessen, was Gewohnheiten schon vorprägen, also weitere Fesseln für kreative Prozesse. Es könnten aber Werkzeuge sein für freie, kreative Menschen. Sie müssten sich allerdings ihrer kreativen Macht bewusst werden.

Bitte vervollständigen Sie diese drei Sätze …

1. Ich freue mich jedes Mal, wenn …
… mir jemand mit einem guten Argument widerspricht.

2. Dieses Buch zum Thema Kreativität sollte jeder gelesen haben:
Hmm? Ein Buch?

3. Im Jahr 2022 möchte ich …
…mein Mitgefühl, meine Vernunft und Kreativität weiter pflegen.

Vielen Dank für das anregende Gespräch, Herr Brodbeck!

 

Über Karl-Heinz Brodbeck:

Karl-Heinz Brodbeck ist ein deutscher Philosoph, Kreativitätsforscher, Ökonom und Wirtschaftsethiker. Er ist emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, Statistik und Kreativitätstechniken an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt und Autor von 27 Büchern und rund 300 Aufsätzen zu verschiedenen Bereichen.

 

 


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