September 2020 | Interview
Philipp Gasteiger: Think INSIDE the Box
Philipp, du bist Experte für „Systematic Inventive Thinking“ (SIT). Was steckt dahinter?
‚Systematic‘ oder auch gelegentlich ‚Structured Inventive Thinking‘ steht für eine Methode, die empirisch abgeleitete Innovationsmuster nutzt, um ausgehend von einer Ist-Situation aus dem Stand neue Ideen zu entwickeln. Diese einfachen Denkmuster können nachträglich erklären, wie z.B. aus einem alten Produkt eine neue Produktinnovation geworden ist. Wir wenden sie aber als Werkzeuge an, um damit etwas Neues zu schaffen.
Interessant ist, dass man dafür nicht zuerst ein Problem identifizieren muss, das man lösen will. Man wendet die Techniken direkt auf den aktuellen Zustand an und erhält somit neue Ideen – vom ‚Quick-Win‘ bis hin zu radikalen Ansätzen. Und da die Ausgangssituation gleichermaßen ein Produkt, ein Prozess oder auch ein Geschäftsmodell sein kann, eignen sie sich für alle Arten der Innovation.
Kannst du uns kurz zwei Techniken des Systematic Inventive Thinking vorstellen?
Die im ersten Moment vielleicht unbequemste Technik ist die ‚Subtraktion‘. Hier werden wichtige Komponenten eines Produktes weggelassen. Unbequem ist das deshalb, da wir ja gerne Dinge verbessern, indem wir etwas hinzufügen. Doch das Weglassen zwingt uns dazu, anders über die Ist-Situation nachzudenken und den Status quo zu hinterfragen. Alles, was unter den Begriffen ‚Unlearn‘, ‚Simplicity‘ oder ‚frugale Innovation‘ entsteht, folgt genau dieser Logik. Und dieses Muster ist wohl auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Unternehmen wie Dyson oder Apple. Dort finden sich in fast allen Produkten Subtraktionen – ohne dass sie bewusst darüber nachgedacht haben. Aber das Weglassen des Staubbeutels beim Staubsauger bringt mich automatisch auf neue Gedanken, legt versteckte Vorteile offen und führt zu neuen Lösungen.
Ein weiteres Muster ist die ‚Vereinigung‘. Sie ist meist auch noch sehr gut in innovativen Lösungen erkennbar und besagt: Eine Komponente übernimmt die Funktion einer anderen Komponente. Im Grunde beruhte die ganze Fernsehserie MacGyver auf diesem Prinzip und alles was man unter dem Titel ‚Life Hack‘ sieht, ist genau das. Solche Ideen können Schnuller mit integriertem Fieberthermometer oder der Wasserhahn von Dyson mit eingebautem Handtrockner sein. Richtig spannend wird das aber, wenn man es auf Industrieprozesse oder komplexere Produkte anwendet.
Etwas wegzulassen zwingt uns dazu, anders über die Ist-Situation nachzudenken und den Status quo zu hinterfragen. Share on X
Ich habe einen Artikel geschrieben, warum „Thinking outside the Box“ nicht funktioniert. Daraufhin erklärten mir viele Leser, dass ich völlig falsch läge. Erlebst du solche Reaktionen auch bei Unternehmen, die das erste Mal mit SIT arbeiten?
Oh ja! Mein Kollege Drew Boyd in den USA nennt das, was wir mit agileSIT tun, auch gerne die ‚Inside the Box‘-Methode – und das provoziert schon ungemein. Ich frage dann immer gerne, was denn ‚Outside the Box‘ genau bedeutet und wie es funktioniert. Da stellt man schnell fest, dass es eher eine hohle Phrase oder ein Wunsch ist, aber keine Methode, die einem in irgendeiner Weise eine wirkliche Hilfestellung gibt.
Der Schriftsteller Terry Pratchett hat es auch ganz gut auf den Punkt gebracht: “I’ll be more enthusiastic about encouraging thinking outside the box when there’s evidence of any thinking going on inside it.”
Lässt sich SIT auch mit anderen Innovationsmethoden kombinieren?
Ja, sehr gut sogar. Wir haben aus Systematic Inventive Thinking schon vor Jahren agileSIT gemacht, da sich die Methode bestens mit agilem Arbeiten kombinieren lässt und damit noch effektiver und praktikabler wird. Später entstanden in Projekten eine Reihe von sehr sinnvollen Kombinationen mit Design Thinking, TRIZ, Lean, Six Sigma etc. – überall lassen sich damit die Ergebnisse verbessern und/oder die Prozesse beschleunigen.
Was war für dich die größte Überraschung, die du jemals in einem Innovationsprojekt erlebt hast?
Das waren schon einige! Aber bezogen auf das methodische Arbeiten gibt es zwei Arten von Überraschungen, die vermutlich der Grund sind, warum ich das so gerne mache. Das eine sind die Ideen, bei denen sich die Teilnehmer an den Kopf fassen und sagen: „Warum sind wir da nicht schon viel früher draufgekommen!“ – teilweise ging es bei solchen Ideen um Einsparungen von dutzenden Millionen.
Der andere Moment ist der, wenn vermeintlich „unkreative“ und sehr strukturierte Teilnehmer dank der richtigen Methode auf einmal eine gute Idee nach der anderen haben.
Beides kommt sogar regelmäßig vor – es ist aber immer wieder eine Überraschung, weil man nie genau weiß wann oder bei wem.
Leonardo da Vinci galt lange als der visionärste Erfinder der Geschichte. Die meisten seiner Ideen stammten jedoch von anderen Erfindern. Er perfektionierte sie „nur“. Wie innovativ sind unsere viel bewunderten Visionäre eigentlich?
Ich bin der festen Überzeugung, dass Innovationen nie aus dem Nichts entstehen. Und all unsere großen Erfinder haben immer auf einem Status quo aufgebaut. Ihn muss man kennen und verstehen, um ihn weiter zu entwickeln. Man kann die Muster, die Systematic Inventive Thinking nutzt, auch sehr gut in den Erfindungen der Vergangenheit wiederfinden.
Viele Produkte wurden durch Science-Fiction-Vorbilder inspiriert. Share on X
Du hast in einem unserer letzten Gespräche eine schöne Verbindung zwischen Innovationen und Science-Fiction-Filmen hergestellt. Kannst du das für unsere Leser noch einmal zusammenfassen?
Auch Science-Fiction ist ja mittlerweile eine alte Stilrichtung – man denke nur an Jules Verne. Und so fällt es auf, dass auch die Zukunftsvorstellungen einer Epoche immer die jeweilige Epoche selbst widerspiegeln. So sind es in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts große Maschinen und Zeppeline, in den 50er und 60er Jahren eher Supercomputer und die Eroberung des Weltalls. Internet, Smartphones mit App-Markt und Social Media konnten sich damals aber nur wenige vorstellen. Dennoch sind fraglos viele Produkte von Sciene-Fiction-Vorbildern inspiriert. Dieses Henne-Ei-Thema finde ich sehr spannend.
Hast du selbst schon einmal etwas erfunden? Wenn ja, was?
Ja und nein. Es entstehen natürlich laufend Erfindungen und Patente mit unseren Kunden. Ich selbst führe aber nur eine Liste mit eigenen Ideen, die ich leider sträflich vernachlässige. Auf der anderen Seite sehe ich, wie die Innovationsmuster und die damit möglichen Problemlösungen im Alltag helfen und das Denken verändern. Und diese kreative Änderung im Mindset ist vielleicht noch viel wertvoller als einzelne Erfindungen – auch für Unternehmen.
Danke dir für das spannende Gespräch, Philipp!
Über Philipp Gasteiger:
Philipp Gasteiger ist Innovationsspezialist bei STI-Consulting in München und leitet die Innovationsabteilung des Beratungshauses. Er arbeitet seit 2012 mit der SIT-Methode und hat Erfahrung in zahlreichen Branchen wie IT, Automobilindustrie, Öl & Gas, Chemie, Nahrungsmittel, Pharma, Biotech, Versicherungen, Verkehr & Luftfahrt, Energieversorgern und FMCG.
Vor seiner Tätigkeit bei STI studierte Philipp Gasteiger Bauingenieurwesen. Er war vier Jahre Senior-Innovation-Facilitator bei einer israelischen Innovationsberatung und leitete Start-ups. Neben der SIT-Methode ist er auch bestens mit Methoden wie Scrum, Lean, Lean Start-Up, Six Sigma, Kaizen, TRIZ, Gamification und Design Thinking vertraut, die er gezielt mit seinem Wissen in Innovationsmanagement, Wettbewerbsstrategie und Geschäftsmodellen verknüpft.