Juni 2020 | Interview
Marc van den Broek: Über Leonardo, das Klauen und die Kunst
Herr van den Broek, Sie haben 2018 Ihr wunderbares Buch „Leonardos Erfindungsgeister“ veröffentlicht. Worum geht es?
In meinem Buch habe ich einen umfassenden Blick auf Leonardo da Vincis Erfindungen geworfen. Dabei habe ich mich auf Leonardos technische Erfindungen beschränkt und entdeckt, dass die Ursprünge und Konzepte seiner innovativen Ideen größtenteils nicht von ihm, sondern von anderen Erfindern stammen. Ich habe den Weg dieser insgesamt 100 Innovationen bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt und die einzelnen Entwicklungsschritte mit zahlreichen historischen Bildern sichtbar und nachvollziehbar gemacht. Diese Ursprünge reichen teilweise bis zu 2000 Jahre zurück. Trotzdem ist es nicht nur ein Buch über die Vergangenheit. Am Ende meines Buches beschreibe ich auch, was all diese Entwicklungen mit unserer heutigen Zeit zu tun haben.
Woher rührt Ihre Faszination für Leonardo da Vinci?
Ich beschäftige mich schon seit den 1980er Jahren mit Leonardo, weil ich mich zu dieser Zeit intensiv mit dem Thema Fliegen auseinandergesetzt habe. Da ich sowohl Elektromechanik als auch Kunst studiert habe, faszinierte mich schon immer das Zusammenspiel aus Ingenieurwissenschaften und Kunst, das in Amerika unter dem Begriff „Imagineering“ bekannt ist. So kam ich über all die Jahre auch immer wieder in Kontakt mit Leonardo, der ja als der Urvater dieser Art zu denken gilt. Diese „Begegnungen“ mit Leonardo empfand ich als unglaublich inspirierend. Zudem faszinierte mich, wie er im Schnitt jeden Tag zwei bis drei vielversprechende Ideen entwickeln konnte, die oftmals nicht mehr als eine kleine Randnotiz in seinen Notizbüchern waren.
Sie haben laut eigener Aussage 15 Jahre an Ihrem Buch geschrieben. Warum hat die Fertigstellung so lange gedauert?
Der Auslöser für mein Buch fällt in das Jahr 2001 als ich noch in New York lebte und arbeitete. Kurz nach dem 11. September entdeckte ich bei Recherchen ein Internet-Forum, in dem ich auf ein kleines wackeliges Video stieß. In dieser Dokumentation bauten amerikanische und chinesische Wissenschaftler eine 1000 Jahre alte Brücke aus China zusammen, die unverwechselbare Eigenschaften hatte. Es handelte sich um eine selbsttragende Brücke aus ineinander verkeilten Baumstämmen. Durch meine Arbeit mit Leonardos Manuskripten kam mir diese Brücke sofort bekannt vor und es dauerte auch nicht lange, bis ich genau diese Brücke in einem von Leonardos Notizbüchern wiederentdeckte.
Diese Entdeckung hat natürlich sofort mein Interesse angestachelt. Denn mir war sofort klar, dass Leonardo das Konzept dieser Brücke übernommen und abgezeichnet hatte. Mir schossen mehrere Fragen durch den Kopf: Wie konnte diese chinesische Erfindung auf den Schreibtisch von Leonardo gelangen? Was, wenn diese Brücke nicht die einzige Erfindung war, die Leonardo aus anderen Quellen „geklaut“ hatte?
Kurz darauf startete ich meine umfassenden Recherchen, die mich in die unterschiedlichsten Winkel der Welt führten. Dabei entdeckte ich viele weitere Erfindungen, die im Original nicht von Leonardo, sondern von anderen Erfindern stammen. Nachdem ich 100 Erfindungen identifizierte, die sich Leonardo aus früheren Quellen zu eigen machte, habe ich aufgehört. Das Projekt wäre sonst viel zu umfangreich geworden. All die Puzzleteile der einzelnen Erfindungen zu entdecken und die alten Handelsrouten akribisch zurückzuverfolgen, war unglaublich zeitintensiv. 15 Jahre sind da rückblickend eigentlich eine recht kurze Zeit. (lacht)
Wir Menschen müssen uns neu in Raum und Zeit definieren, um den Sprung in das digitale Zeitalter zu schaffen. Share on X
Was war während dieser langen Entstehungs- und Recherchezeit Ihre faszinierendste Entdeckung?
Mein Schlüsselerlebnis war tatsächlich die eben beschriebene Holzbrücke. In diesem Augenblick brach meine damalige Vorstellungswelt über Leonardo zusammen und zwang mich dazu, mich anders mit ihm auseinanderzusetzen. Ich möchte aber auch klarstellen, dass mein Buch Leonardos Genialität zu keinem Augenblick in Zweifel zieht – im Gegenteil. Ich möchte den Leuten nur einen neuen, frischen Blick auf Leonardo ermöglichen. Darüber hinaus möchte ich die Leute dazu einladen, sich selbst auf eine Entdeckungsreise zu Leonardos unzähligen anderen Erfindungen zu begeben und meine Studien fortzusetzen.
Wie stark wirkt Leonardos Zeit, d.h. die Renaissance, bis in die Gegenwart?
Der gewaltige Impuls der Renaissance begann vor 500 Jahren und dauert bis heute an. Mit der europäischen Renaissance begann die Entwicklung weg von der Mystik hin zur Ratio – hin zum linearen Denken, zur Beweisführung, zur Forschung und zur Technik. Erst die Fortschritte auf diesen Gebieten machten unser Industrie- und das Computerzeitalter überhaupt möglich. Zeitgleich entwickelte sich aber auch ein ungezügelter Konsumismus, der unsere Lebensgrundlagen zerstört und unter dessen Folgen wir heute alle leiden. Die Ich-Bezogenheit, die in der Renaissance begann, kumuliert in unserer heutigen Zeit in den Sozialen Medien, bei denen es ganz oft nur noch um „Me, Myself & I“ geht. Um die drängenden Probleme unserer Zeit zu lösen, braucht es aber ein „Wir“ – ein neues kollektives Bewusstsein. Wir Menschen müssen uns neu in Raum und Zeit definieren, um den Sprung in das digitale Zeitalter zu schaffen.
Was wir gerade erleben, ist nichts anderes als die Kernschmelze des materiellen Zeitalters, das in der Renaissance seinen Anfang nahm. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und die weltweite Corona-Krise beschleunigen diesen Prozess noch weiter. Die Frage, die wir uns jetzt alle stellen sollten: Was können wir aus den vergangenen 500 Jahren lernen, um gemeinsam eine lebenswerte Zukunft zu erschaffen?
Die meisten Unternehmen halten es nicht aus, künstlerisches Denken zuzulassen – sie fürchten den Kontrollverlust. Share on X
Sie haben viele Jahre als Künstler oft mit Unternehmen zusammengearbeitet. Warum tun sich viele Unternehmen mit dem innovativen und künstlerischen Denken und Handeln so schwer?
Schöpferisches Arbeiten braucht Freiraum und Spielerei, das heißt die Möglichkeit, ohne Druck und ohne Ziel experimentieren zu können. Die meisten Unternehmen halten es leider nicht aus, diese Art des künstlerischen Denkens zuzulassen – sie fürchten den Kontrollverlust. Das zeigt die Realität. Kunst ist für die meisten Unternehmen nicht mehr als Dekoration für ihre Empfangshallen oder Vorstandsetagen. Bereits vor vielen Jahren schrieb ich eine Abhandlung mit dem Titel „Vom Wirken der Kunst in Unternehmen“, weil ich davon überzeugt bin, dass wir in Unternehmen mehr künstlerisches Denken und Handeln brauchen. Gerade in unserer heutigen Zeit ist die Kunst wichtiger als jemals zuvor. Das ist eine Chance, die wir nicht verpassen sollten.
Was regt Ihren Geist zu neuen Ideen und Erfindungen an?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, ich schaue mir die Dinge und die Menschen genau an und hinterfrage, was ich sehe. Ich betrachte die Dinge einfach anders. Wirklich beschreiben, wie das geht, kann ich allerdings nicht. Ich kann Ihnen nur ein kleines Beispiel geben. In den 1980er Jahren entdeckte ich in Griechenland ein kleines quadratisches Holzklötzchen am Strand. Dieses kleine Klötzchen hat mich zu einem großen computerisierten Kunstwerk in Langen bei Frankfurt am Main inspiriert.
An welchem neuen Projekt arbeiten Sie gerade?
Sie werden überrascht sein, aber ich arbeite gerade an einer Faust-Oper, die sich um die aktuellen Themen unserer Zeit drehen wird. Ob sie realisierbar ist, kann ich aktuell noch nicht sagen. Ich halte Sie aber gerne auf dem Laufenden.
Vielen Dank für das spannende und inspirierende Gespräch, Herr van den Broek!
Über Marc van den Broek:
Der belgische Künstler, Bildhauer und Erfinder Marc van den Broek studierte Elektromechanik und Kunst. Über 30 Jahre hat er sich mit der Technikgeschichte von Erfindungen auseinandergesetzt, die in der Regel Leonardo da Vinci zugeschrieben werden, und verfolgte ihre tatsächlichen Ursprünge nach Arabien, China, das antike Rom, Ägypten und Griechenland. Inspiriert durch die langjährige und intensive Zusammenarbeit mit Industrie- und Wirtschaftsunternehmen entwickelt Marc van den Broek in den 1990er Jahren das Projekt „Vom Wirken der Kunst in Unternehmen“. Er greift darin den Begriff Joseph Beuys der „Sozialen Plastik“ auf und sieht in der Symbiose von Kunst und Unternehmen einen synergetischen Gestaltungsprozess, der Inspiration, Innovation und Erkenntnis fördert und somit zur geistigen Entwicklung der Gesellschaft beiträgt.